Notfallmedizin und Innovation

Wenn jede Sekunde zählt, entscheidet moderne Notfallmedizin über Leben und Tod. In Wien optimiert ein Zusammenspiel aus Ersthelfern, Rettungskräften und Technologie die Überlebenschancen. Doch jede Maßnahme begann als Forschung. Warum präklinische Studien essenziell sind – mehr dazu im Beitrag.

Notfallmedizin und Innovation
© Berufsrettung Wien

Wie prähospitale Forschung das Rettungswesen verändern kann

Ein Mann liegt am Boden in seiner Wohnung – Er hatte schon den ganzen Tag Brustschmerzen und wollte zum Hausarzt fahren. Doch plötzlich verlor er das Bewusstsein und stürzte zu Boden. Seine Partnerin ruft 144, checkt die Atmung – der sonst so starke Mann tut aber nichts, nicht einmal einen einzigen Atemzug. Sofort werden durch die Rettungsleitstelle Wiederbelebungsmaßnahmen angeleitet, die Frau legt ihre Handballen auf die Mitte des Brustkorbes und drückt schnell und kräftig. Ein Defibrillator ist nicht im Haus, doch schon nach kurzer Zeit läutet es an der Tür – „Machen Sie auf, ich habe jemanden mit einem Defi vorbeigeschickt“ sagt der Disponent in der Leitstelle am Telefon. Vor der Wohnung steht ein Sanitäter, der gerade außer Dienst am Weg zu einem Konzert war. Die Alarmierung kam von einer Smartphone-App, der Defi von einer der in Wien öffentlich zugänglichen Notruf-Säulen in einer umgebauten Telefonzelle. Der Sanitäter in Zivil übernimmt die Herzdruckmassage, die Frau hört plötzlich eine, zwei, drei Sirenen – alle unterschiedlich. Sie hat sich noch nie wirklich Gedanken darüber gemacht, aber es müssen wohl Polizei, Feuerwehr, und Rettung sein, die da alle anders klingen. „Sind die Kollegen schon da?“ tönt es aus dem Telefon, die Frau kann nur überrascht bejahen als plötzlich 2 Polizistinnen mit einem weiteren Defibrillator und Sekunden später drei Feuerwehrmänner in der Wohnung stehen. Gemeinsam mit dem Sanitäter wird die Wiederbelebung weitergeführt. „Alle weg, Schock!“ ruft eine der Polizeibeamtinnen, und der laut bimmelnde Defi gibt einen kurzen Schock über auf den Brustkorb geklebte Pads ab. „Weiter“ bemerkt ein Feuerwehrmann ruhig aber bestimmt. Durch ein mittlerweile über dem Brustbein angebrachtes Device können die Helfer*innen genau sehen, wie gut ihre Herzdruckmassage ist – und sich so bei Bedarf abwechseln. 

Schnaufend – schließlich sind es sechs Stockwerke ohne Lift – trifft nun die Rettung ein, kaum mehr als fünf Minuten sind vergangen. Sanitäter*innen-Team, Notärztin, und „Field-Supervisor“ betreten den Raum, nehmen wie automatisch ihre Plätze rund um den Mann am Boden ein, öffnen Rucksäcke und Taschen. Verschiedene Geräte sind jetzt im Einsatz, die Frau fühlt sich etwas benommen. „Wir tun für Ihren Gatten was wir können – sind vielleicht Krankheiten bei ihm bekannt?“ fragt ein junger Sanitäter, der sich zu ihr gestellt hat. „Langsam ein- und ausatmen. Sie machen das sehr gut“ versucht er ihre zu schnell gewordene Atmung zu beruhigen. Sie sucht jetzt alte Arztbefunde, bei der letzten Gesundenuntersuchung war alles okay. Ja, zu viele Zigaretten, aber sonst… „Beatmung Start“ hört sie von der Notärztin, es steckt jetzt ein Schlauch im Mund ihres Partners, und davon geht ein langer weiterer Schlauch zu einem Beatmungsgerät. Sie sieht auch, dass im Schienbein ein Zugang steckt, über den eine Infusion läuft – eine Polizistin hält den Flüssigkeitsbeutel nach oben. „Rhythmuskontrolle“ und „Ich habe Puls!“ folgen, die Herzdruckmassage wird gestoppt. Ein EKG wird geschrieben, das kennt die Frau von Besuchen beim Hausarzt. Die Notärztin tritt zu ihr: „Ihr Partner hat einen Herzinfarkt, wir bringen ihn jetzt ins Krankenhaus. Er hat jetzt gerade wieder einen eigenen Kreislauf, die Situation bleibt aber weiterhin kritisch…“. Der Mann wird durch mehrere Personen über die Treppen hinunter zum wartenden Rettungstransportwagen getragen. Alles geht jetzt sehr schnell, ein rascher Transport ist wichtig, um gegebenenfalls noch Herzmuskelzellen retten zu können. „Herzkatheter“ hört die Frau, sie wird von einem Sanitäter betreut und mit weiteren Informationen versorgt. Sie wird erst kurze Zeit später ins Krankenhaus kommen und nicht mitbekommen, dass ihr Partner während der Fahrt einen erneuten Herz-Kreislauf-Stillstand hatte. Durch ein mechanisches Reanimationssystem, das auch während des Transports eine qualitativ gute Herzdruckmassage sicherstellt während die Sanitäter sich nicht in Gefahr begeben müssen, war eine durchgehende Versorgung ohne Verzögerung möglich. 

Im Krankenhaus kommt nach der Herzkatheteruntersuchung eine vorsichtig positive Nachricht – der Patient ist stabil, ein verstopftes Herzkranzgefäß konnte saniert werden. Es liegt aber noch ein weiter Weg bis zur Re-Integration in den Alltag vor ihm…

 

Die dargestellte Episode ist in Wien keine Seltenheit – ca. 1500 Mal pro Jahr, das sind etwa 4 Mal pro Tag, rückt die Berufsrettung Wien zu einer kardiopulmonalen Reanimation aus. Diese verläuft oft mit einem nicht so positiven Ausgang wie in unserem Beispiel, aber dennoch immer gleich professionell: Die Reanimation folgt einem klaren Algorithmus, den alle key player in der „chain of survival“ in- und auswendig beherrschen. Dahinter steckt jedoch ein massiver Aufwand, nicht nur ressourcentechnisch, sondern auch wissenschaftlich. Alle aufgezählten diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen, die heutzutage „standard of care“ sind und die Chancen, einen Herz-Kreislauf-Stillstand zu überleben verbessern, waren einmal experimentell Teil einer Studie. Machbarkeit, Kosten/Nutzen Rechnung, Effekte, und Implementierung wollen getestet, validiert, und auch publiziert werden, also durch einen langen Prozess laufen. Die Planung und Umsetzung von Studien inklusive der Finanzierung, die Auswertung der gesammelten Daten, die Zusammenstellung der Ergebnisse in einem Manuskript, dessen Einreichung bei einem internationalen medizinischen Fachjournal, das Durchlaufen des sogenannten „peer review“ Prozesses (Begutachtung durch anerkannte Fachexpert*innen), und schließlich die Publikation für die Fachwelt und breite Öffentlichkeit – hier können schon einmal Monate bis Jahre vergehen. Diese Prozesse kennt man beispielsweise aus der Medikamentenforschung durch finanzstarke Pharmakonzerne – in der prähospitalen notfallmedizinischen Forschung sehen die Voraussetzungen jedoch anders aus. Eine Knappheit an verfügbaren Ressourcen, fehlende Wissenschaftsförderungsmöglichkeiten, und nicht zuletzt die fordernden Umstände der Studiendurchführung (beispielsweise in Wohnungen, im Freien, oder im Rettungstransportwagen) stellen Wissenschaftler*innen in diesem Bereich oft vor große Hürden. Enthusiasmus und persönliches Engagement weit über den „Dienst nach Vorschrift“ hinaus sind oft maßgeblich dafür verantwortlich, neue Konzepte zu entwickeln, diese zu testen, und dann auch „auf die Straße“ zu bringen. Bei der Berufsrettung Wien wird dies in einem perfekt ineinandergreifenden System vereint – die verschiedenen verfügbaren Einheiten zusammen mit einem Wissenschaftsteam inklusive Studienfahrzeug machen es möglich, dass prähospitale Forschung auf international einzigartigem Niveau durchgeführt werden kann. 

Die so an einem Forschungsstandort gewonnenen Informationen werden aber nicht sofort 1:1 bei Patient*innen umgesetzt – zuvor müssen Konzepte extern validiert werden. Die so aus mehreren Quellen verfügbaren Informationen werden folglich durch ehrenamtliche übernationale Organisationen wie ILCOR (International Liaison Committee on Resuscitation) zusammengetragen und gemeinsam bewertet – es werden sogenannte „Reviews“ angefertigt. Aus diesen Reviews wird jährlich eine Zusammenstellung aktueller Empfehlungen gefertigt, aus denen wiederum in mehrjährigem Abstand Leitlinien, Guidelines, zur Reanimation formuliert werden – hier dann jeweils von regionalen Organisationen wie in Europa dem Europäischen Rat für Wiederbelebung (ERC). Auch hier ist die Berufsrettung Wien beteiligt, sowohl auf internationalem als auch auf europäischem Level. Die Guidelines des ERC ermöglichen dann ein standardisiertes Vorgehen auch bei unserem Herrn mit dem Herzinfarkt. 

Nehmen wir an, unser Patient überlebt den Krankenhausaufenthalt, geht auf Reha, arbeitet dann mit mehr Sport und einem Rauchstopp an seiner kardiovaskulären Gesundheit, und nimmt wieder aktiv am Alltag teil – vergessen werden weder er noch seine Familie diese Episode nie. „Survivorship“ wird dies in der Fachwelt genannt, und für die Partnerin „Co-Survivorship“ – ein Weg nach dem Überleben, der nie zu Ende ist. Die Einbindung von Überlebenden in die Erstellung der nächsten Auflage der Guidelines ist ein Schritt, der diesem Aspekt zwar Rechnung trägt, aber noch längst nicht genug ist. Anlaufstellen für Überlebende oder spezielle Reha-Programme sind noch Zukunftsmusik. 

Nehmen wir außerdem an, der Mann, der überlebt hat, hätte eine Tochter, die über diese Episode erzählt bekommt. Die Wichtigkeit der medizinischen Forschung erkennt. Und dann entweder Politikerin wird und sich für Reanimationsunterricht in der Schule einsetzt. Oder aber Sanitäterin und Studienmitarbeiterin – immer mit dem Ziel, noch ein Prozent mehr an Überleben herauszuholen, noch ein Leben mehr zu retten, noch einen Vater wieder nachhause zurückkehren zu lassen – Wäre das nicht ein happy end, das diesen Namen zur Abwechslung mal wirklich verdient hat? 


Vorstellung des Autors

Priv.-Doz., MD, PhD Sebastian Schnaubelt

Sebastian Schnaubelt ist Leiter des Departments prähospitale Forschung der Berufsrettung Wien, und hat Affiliations mit der Medizinischen Universität Wien, der Universität Antwerpen, dem Europäischen Rat für Wiederbelebung (ERC), und mit ILCOR (International Liaison Committee on Resuscitation). Weiters ist er Stv. Vorsitzender des Österreichischen Rates für Wiederbelebung (ARC). Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die inner- und prähospitale Notfallmedizin, insbesondere die vaskuläre Funktion bei Notfallpatient*innen und die kardiopulmonale Reanimation. 

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